Gedanken zur heiligen Anna - für die St.-Anna-Realschule in Stadtlohn
von Stephan Jürgens
Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen dem Gebet, dem Glauben und der Theologie. Mit Gott sprechen – das ist Gebet. Von Gott sprechen – das ist Glaube. Über Gott sprechen – das ist Theologie. Die heilige Anna hat es deshalb mehr mit dem Beten und dem Glauben zu tun. Die Theologen sind an ihr nicht besonders interessiert. In der Bibel steht über sie nichts. Jesus hatte eine Großmutter, die vielleicht Anna hieß. Alles andere über sie ist Legende.
Die Legende geht zurück auf das sogenannte „Protoevangelium des Jakobus“. Diese Schrift ist um 150 n. Chr. entstanden und gehört zu den Apokryphen, den „verborgenen Büchern“, die, Gott sei Dank, nicht in den Kanon der biblischen Bücher aufgenommen wurden. Die Apokryphen enthalten viel fromme Fantasie und allerlei Spekulationen über das Leben und Vorleben einiger biblischer Personen, allen voran Jesus und Maria; Geschichten und Geschichtchen, die der religiösen Erbauung dienen, aber keine historischen Ereignisse widerspiegeln. So ist die im „Protoevangelium des Jakobus“ enthaltene Geschichte über Joachim und Anna, die Eltern Marias und damit die Großeltern Jesu, eine Parallelerzählung zur Vorgeschichte Johannes’ des Täufers und seiner Eltern Elisabeth und Zacharias: Es geht um den Dienst im Tempel, um vermeintliche Kinderlosigkeit und um die Erhörung der Bitte Annas durch ein wunderbares Eingreifen Gottes. Das Einzige, was wir also mit Sicherheit wissen, ist: Jesus hatte – mütterlicherseits – eine Großmutter, die man später Anna nannte. Wo genau die Großeltern Jesu gelebt haben, ob in Jerusalem oder Sepphoris in Galiläa – hier gibt es zwei ganz unterschiedliche Überlieferungen –, und wo demnach Maria aufgewachsen sein könnte, bleibt ebenfalls unsicher.
Bleibt also übrig, etwas über Anna zu sagen, das mit dem Gebet und dem Glauben zu tun hat. Wer mit Gott spricht, wer die Welt von ihm her zu sehen versucht, der wird etwas über Anna sagen können; etwas, das mehr aus dem Herzen kommt als aus dem Kopf. Ich will es versuchen – in einigen kurzen Überlegungen.
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Mit der heiligen Anna ehren wir Gottes Wirken in dieser Geschichte. Unsere Menschheitsgeschichte ist Heilsgeschichte. Gott hat sich nicht herausgehalten, er hat die Welt nicht sich selbst überlassen; er hat von jeher kräftig mitgemischt, wenn es um das Heil seiner Menschen geht. Die Menschwerdung seines Sohnes war von langer Hand vorbereitet. Er hat sich die Familie, in die sein Sohn hineingeboren werden sollte, auserwählt: Joachim und Anna (oder wie sie auch geheißen haben mögen). Dennoch erwartet er, als es soweit ist, von Maria ein freiwilliges Ja zu seinem Plan. Gott hatte schon weit vor Maria seine Hand im Spiel. Jesus, Gottes Sohn – ein Mensch mit Geschichte! Wenn das stimmt, dann ist jede und jeder von uns ein Teil von Gottes Plan; jedes Menschenleben will ein Stück Heilsgeschichte sein – von Gott her für die Welt. Er will durch uns diese Welt ein Stück menschlicher machen. Mit jeder und jedem von uns hat er etwas ganz Besonderes vor. Du und ich, wir sind ein Stück Heilsgeschichte, ein Teil von Gottes Plan. Nehmen wir diese Berufung wahr?
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Mit der heiligen Anna bekennen wir uns zum wahren Menschsein Jesu. Der Gottessohn, der von Ewigkeit her zu uns kam, wurde in eine menschliche Familie hineingeboren, hatte eine menschliche Mutter und richtige Großeltern. Gottes Sohn ist nicht bloß Idee und Gedanke; Jesus ist Mensch – und als solcher ist er mit uns über diese Erde gegangen. Er kennt unser Leben durch und durch. Ein Mensch mit Haut und Haar, mit Hand und Fuß.
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Die heilige Anna sagt mir: Gott ist mir menschlich nahegekommen, und deshalb soll mein Glaube Fleisch und Blut haben: Christsein mit Hand und Fuß. Wie Anna und Maria, so sollen auch wir Jesus zur Welt bringen. Nehmen wir diese Berufung wahr?
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Die allseits bekannte Statue der heiligen Anna gibt mir zu denken: Anna selbdritt. Seit dem 13. Jahrhundert gibt es diese Darstellung. Vorher wurde Anna nur einzeln oder zusammen mit Maria dargestellt. Manchmal sind auch Josef und Joachim dabei, sozusagen die heilige Sippe, die heilige Großfamilie. Und wenn die ebenfalls nicht historische heilige Emerentia, die Mutter Annas, dazukommt, dann haben wir eine Anna „selbviert“.
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Allein der Name ist interessant: Da ist jemand „selb“, also ein unverwechselbarer, zu sich selbst gekommener Mensch, indem er „dritt“, also zu dritt ist: Anna selbdritt. Ohne Maria und Jesus ist Anna nicht mehr sie selbst, denn sie ist selb-dritt! Ursprünglich kam das Wort „selbdritt“ wohl daher, dass man aus demselben Stück Holz drei Figuren geschnitzt hat. Aber man darf noch einen tieferen Sinn dahinter sehen: Wir Menschen sind auf Beziehung angelegt. Aristoteles sagt: „Der Mensch bedarf des Anderen zur Erfüllung seines Wesens.“ – „Der Mensch wird am Du zum Ich“, formuliert Martin Buber einfach, klar und wahr. Wir finden uns selbst, wenn wir uns öffnen zum Du.
Aber diese Bewegung geht noch weiter. Denken wir etwa an Eheleute, die zur Familie werden: Die vormals traute Zweisamkeit bekommt einen ganz neuen Sinn. Oder denken wir an zwei Freunde: Wenn sie nur für sich selber sorgen, werden sie sich bald langweilen. Sie brauchen ein gemeinsames Ziel, eine Aufgabe. Wo sich die einsame Zweisamkeit öffnet zur Gemeinschaft hin, da erst wird neues Leben möglich.
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Die Darstellung der Anna selbdritt sagt mir: Der Mensch kommt erst dann zu sich selbst, wenn er sich öffnet in Gemeinschaft; wenn er sein Leben mit anderen teilt. Es klingt fast so lapidar, wie es wahr ist: Ein Christ ist kein Christ. Wo aber zwei oder besser noch drei in Jesu Namen versammelt sind, da ist er mitten unter ihnen. Unsere Berufung zum Kirchesein ist urmenschlich. Nehmen wir diese Berufung wahr?
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Die Mitte unserer Anna selbdritt ist Jesus. Im Glauben geht es immer um diesen einen: Jesus Christus. Alles, was wir tun: die Gemeinschaft der Kirche, unser Engagement, unser Beten und Singen – alles will uns zu ihm führen. Unser Glaube ist nicht eine Ansammlung kluger Sätze, liturgischer Floskeln oder abstrakter Dogmen. Nein, wir Christen glauben an eine Person. Sätze, Floskeln und Dogmen kann man nicht lieben. Wir sind eingeladen, eine ganz persönliche Beziehung zu Jesus Christus, zu diesem Mittelpunkt unseres Glaubens zu pflegen.
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Wenn es hart auf hart geht im Leben, dann wird uns nicht das helfen, was wir gelernt haben. Dann wird uns der helfen, den wir lieben dürfen. Wir sind eingeladen zu einer ganz persönlichen Freundschaft zu Christus. Nehmen wir diese Einladung wahr?
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Ein letzter Gedanke. Die heilige Anna lehrt mich, einer guten Tradition zu folgen. Ich meine damit keinen Traditionalismus, sondern das Wort von seinem Ursprung her: tradere, überliefern. Tradition ist das Geländer auf den Stufen des Lebens. Sie zeigt uns, was sich bewährt hat, worauf man bauen und woran man anknüpfen kann. Ohne das Wissen um die eigene Herkunft gibt es keine Zukunft.